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Die Flüchtlingslager in Algerien - ein Staat im Exil

Im Exil auf algerischem Gebiet gründeten und entwickelten die Sahraouis ihren eigenen Staat mit einem funktionierenden Schul- und Bildungswesen, demokratischen Strukturen und Institutionen, einem Rechtssystem und vielem mehr. Sie gestalten den Alltag so normal wie es unter den schwierigen Bedingungen möglich ist.

Alltag in den Flüchtlingslagern

Die Frauen brauchen viel Zeit für die Hausarbeit. Die Schulzeiten der Kinder, das Zubereiten der Mahlzeiten sowie das tägliche Gebet diktieren den Tagesrhythmus. Dazwischen kommt ein Gang auf den Markt oder zur Dayra-Verwaltung, wenn die Bevölkerung des Bario (Quartier) aufgerufen wird, Lebensmittel oder Gasflaschen abzuholen, die über den Roten Halbmond verteilt werden.

Aufreibend ist für die Frauen der Kampf gegen Sand und Schmutz, denn mit dem häufigen Wind dringt der feine Wüstensand durch alle Ritzen. Das Waschen von Kleidern mit dem wenigen Wasser ist mühselige Handarbeit. Seit 2017 gibt es zwar in den Lagern Elektrizität, aber nur sehr wenige Familien besitzen eine Waschmaschine. Die Häuser der Mütter und ihrer verheirateten Töchter stehen meist in unmittelbarer Nachbarschaft als «Grossfamilie»: Die Frauen können sich so gegenseitig unterstützen, was das Leben sehr erleichtert.

Die Familien haben sich im Laufe der vielen Jahre häuslich eingerichtet. In der ersten Zeit lebten sie nur in Zelten. Heute besitzen nicht mehr alle Familien ein Zelt, aber alle ein oder zwei Wohnräume, eine Küche, eine separate Toilette und oft ein Waschraum. Anfangs waren alle Gebäude aus isolierenden Adobe-Steinen (Trockensteinen), die jedoch den seltenen, aber heftigen Regengüssen nur sehr schlecht standhielten. Daher werden heute zunehmend Zementsteine verwendet, obschon diese sich mit der Sommerhitze extrem aufheizen. Wasser wird in grossen Tanks gelagert, vermehrt führen Leitungen von dort direkt in die Häuser. Als Schattenspender und zur Klimaverbesserung werden unterdessen von zahlreichen Familien Bäume gepflanzt.

Am liebsten wird zusammen gesessen, Tee getrunken, gelacht und diskutiert: Gastfreundschaft und Gemeinschaft bedeuten den Sahraouis viel. Seit jeher ist die Teerunde ein zentrales Element – und in den Lagern ist das Teezeremoniell noch wichtiger geworden.

Abwechslung in den Alltag bringen politische Versammlungen, Besuche von Delegationen oder die Teilnahme an Kundgebungen gegen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten oder gegen die Plünderung der Bodenschätze der Westsahara.

All dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Leben der Sahraouis aus Warten besteht:
Warten auf das Referendum, warten auf die Rückkehr, warten auf…
Und währenddessen zerrinnt das Leben.

Wirtschaft – (Selbst-)Versorgung

Die unwirtliche Wüstengegend von Tindouf im Südwesten Algeriens lässt Selbstversorgung kaum zu. Die Flüchtlingslager sind für die Versorgung praktisch gänzlich von aussen abhängig, von der Unterstützung durch internationale Organisationen, Hilfswerke und Unterstützungskomitees. Praktisch alles, was die Menschen zum Überleben brauchen, wird mit Lastwagen in die Lager transportiert. Während der ersten Jahre des Exils (1975–1991) funktionierte die sahraouische Gesellschaft der Lager ohne Geld. Alle Erwachsenen waren in Aufbau und Organisation der Lager eingebunden und arbeiteten im Schul- und Gesundheitswesen, in der Verwaltung auf allen Stufen oder in der politischen Arbeit unentgeltlich mit. Die Polisario und der Rote Halbmond kümmerten sich darum, die für die Bevölkerung und den Staat lebensnotwendigen Güter zu beschaffen; jede Person bekam gleichermassen ihren Anteil von den Lieferungen an Hilfsgütern zugeteilt. So erhielt beispielsweise ein junges Paar bei seiner Heirat ein Zelt und die für das Leben notwendigen Haushaltungsgegenstände von seiner Gemeinde.

Der Beginn des Waffenstillstandes hat die Situation für die Bevölkerung verändert. 1991 begann Spanien mit der Auszahlung von kleinen Renten an seine ehemaligen Angestellten aus der Kolonialzeit. So kam Geld in die Lager und es wurden erste kleine Geschäfte eröffnet. Mit der Öffnung der Grenze zu Mauretanien konnten Waren aus dem Süden eingeführt werden. Seither hat sich die sahraouische Gesellschaft in den Lagern sehr verändert. Die Sahraouis entwickelten ein grosses, unüberschaubares Angebot an Läden und Geschäften aller Art, Restaurants, kleine Werkstätten für Autoreparaturen oder Elektronikzubehör. Es gibt beinahe alles zu kaufen – für diejenigen, die Geld haben!

Mit der Verringerung der internationalen Hilfe muss sich die Lagerbevölkerung nun auch selber um ihre Versorgung bemühen. So versuchen alle auf irgendeine Weise zu einem gewissen Einkommen zu kommen. Dazu dienen die vielen Geschäfte, Restaurants und Werkstätten. Ein kleiner Teil der Bevölkerung hat zudem die mobile Tierhaltung wieder aufgenommen und lebt als Nomaden in den befreiten Gebieten. Andere erhalten monatlich eine kleine Entschädigung für die Mitarbeit in einem der Entwicklungsprojekte, mit der sie den Einkaufskorb der Familie etwas aufbessern können. Die Benachteiligten sind in dieser Situation alle diejenigen, die für den Staat oder die öffentliche Verwaltung auf allen Ebenen arbeiten, in Ministerien, Schulen, Spitälern und Krankenstationen, da der Staat kein Geld hat, um Löhne zu bezahlen. So versucht die Polisario dieses Manko durch zusätzliche Abgaben von Hilfsgütern an LehrerInnen und KrankenpflegerInnen etwas auszugleichen und damit die Motivation der MitarbeiterInnen im öffentlichen Dienst zu erhalten.

Gesamthaft gesehen ist aber die Situation für die Bevölkerung prekär. Daher versuchen immer mehr junge Sahraouis, in Europa Arbeit zu finden, um ihre Familie in den Lagern zu unterstützen. Diese Jobs sind häufig schlecht bezahlt und die Dauer der Anstellung unsicher. In den ersten Jahren betraf dies fast ausschliesslich Spanien, seit der dortigen Krise vermehrt auch Frankreich und andere Länder Europas.

Ein Familiengarten-Projekt erlaubt einer zunehmenden Anzahl von Familien, mit selbstgezogenem Gemüse, z.B. Zwiebeln, Karotten, Randen, Tomaten, Zucchetti und Auberginen, ihren Speiseplan zu verbessern und so zu notwendigen Vitaminen zu kommen.

Obwohl nur wenig Geld in den Lagern vorhanden ist, findet nun doch eine zaghafte wirtschaftliche Entwicklung statt.

Bildung und Gesundheitswesen

Bildung für alle – unabhängig von Geschlecht, Familie oder Herkunft – ist ein wesentliches Ziel der Polisario und Grundlage für die Entwicklung eines demokratischen Staates. Dank Alphabetisierungskursen für Erwachsene und der allgemeinen Schulpflicht ab 6 Jahren können heute 95% der BewohnerInnen der Flüchtlingslager lesen und schreiben.

Trotz knapper Mittel unterhalten die Sahraouis Primar- und Sekundarschulen; auch Kinder mit Behinderung werden betreut und unterrichtet. Einige Berufe können vor Ort erlernt werden, im LehrerInnen-Seminar, in der Krankenpflegeschule, der Hebammenschule, der Nationalschule für die Verwaltung. Weiterführende Schulen und Universitäten besuchen die meisten jungen Sahraouis in befreundeten Ländern – Algerien, Kuba, Venezuela – oder einige dank Hilfsorganisationen in Spanien, Frankreich und Österreich.

Im Verlauf der Jahre haben die Sahraouis in den Lagern eine medizinische Grundversorgung aufgebaut. Es gibt heute ein Nationalspital mit verschiedenen Abteilungen und in jeder Wilaya ein Regionalspital. Zudem verfügt jede Dayra (Gemeinde) über ein Gesundheitszentrum. Die ÄrztInnen erhalten ihre Ausbildung im Ausland, vorwiegend in Kuba oder Spanien, das Pflegepersonal wird in der Krankenpflegeschule der Lager ausgebildet.

Trotz aller Fortschritte bleibt die Lage in den Flüchtlingslagern prekär. Es fehlt an Medikamenten, medizinischen Geräten und Verbrauchsmaterial. Dank Unterstützung des UNHCR oder von Hilfsorganisationen werden regelmässig Impfaktionen durchgeführt: Epidemien konnten so bisher weitgehend vermieden werden.

Das UNHCR und das Welternährungsprogramm sind verantwortlich für den «Nahrungsmittelkorb», der an die sahraouische Bevölkerung abgegeben wird. Dieser entspricht in seiner Zusammensetzung – meist Reis, Teigwaren, Zucker, Öl, Mehl, Linsen – den Anforderungen einer Notsituation, garantiert aber in einer über 40 Jahre dauernden Krise keine ausgewogene Ernährung, im Gegenteil: Aufgrund dieser andauernden Mangelernährung leiden viele Frauen an Blutarmut, auch Diabetes und Zöliakie sind weit verbreitet. Wegen des rauen Klimas mit viel Wind und Sand leiden zudem viele Sahraouis an Atemwegserkrankungen und haben Augenprobleme.

Demokratie und Politik

Das Leben in den Lagern ist demokratisch organisiert. Jede erwachsene Person ist stimm- und wahlberechtigt. Diese Kultur wird bereits den Schulkindern vermittelt.
Die politische Struktur umfasst drei Ebenen: Den Staat DARS (Demokratische Arabische Republik Sahara), die fünf Regionen (Wilaya) und die Gemeinden (Dayra). Jede Dayra ist wiederum in vier Quartiere (Barrios) eingeteilt, welche u.a. für die Verteilung der Hilfsgüter zuständig sind.

Die Institutionen auf nationaler Ebene sind der Volkskongress der Polisario, das Politbüro und der sahraouische Nationalrat (Parlament). Das Volk wählt den Dayra-Rat (Gemeindeparlament), das Gemeindepräsidium und die Volkskongress-VertreterInnen, die ihrerseits das Politbüro wählen. Der Nationalrat wird von den Volkskongressen in den Dayrate gewählt. Er besteht aus 51 Mitgliedern, davon 28% Frauen. Seit kurzem sitzen auch VertreterInnen aus den besetzten Gebieten und der Diaspora im Nationalrat.

Rechtssystem und Militär

Der Aufbau des Justizsystems begann im Jahr 1995. Als unterste Rechtsinstanz schlichten traditionelle Rechtsgelehrte soziale Konflikte und vollziehen Eheschliessungen und Scheidungen; sie sind der Verfassung der DARS verpflichtet.

Jede Wilaya hat ein Regionalgericht, dessen Entscheide beim nationalen Appellationsgericht angefochten werden können. Jugendrichter befassen sich mit Straftaten Minderjähriger. Im Zentrum für jugendliche DelinquentInnen wird versucht, diese wieder zu integrieren. Es ist kein Gefängnis, sondern ein Ort, der jungen Menschen dabei helfen soll, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. So bietet das Zentrum auch Unterstützung für Eltern, die Schwierigkeiten mit ihren Kindern haben.

Das Militär spielt trotz des Waffenstillstands von 1991 noch immer eine bedeutende Rolle. Es sorgt für Sicherheit und bewacht die Grenze zu den besetzten Gebieten. In letzter Zeit wurde die Kontrolle im Süden, gegen islamistische Gruppen aus dem Sahel, immer wichtiger.

Kultur

Eine wichtige Rolle in der sahraouischen Gesellschaft der Lager und für die sahraouische Identität spielt die Kultur. So gibt es zahlreiche Gruppen, welche die sahraouische Musik und den Haul-Gesang pflegen. Musikvorführungen – und oft auch Wettbewerbe zwischen den Dayrate – gehören zu allen Feierlichkeiten im Lageralltag. Einen solchen Wettbewerb hat 2000 auch die 1976 in den Flüchtlingslagern geborene Aziza Brahim gewonnen, die als Sängerin bei ihren Auftritten in Europa und anderswo immer wieder als «Botschafterin» der Sahraouis in Erscheinung tritt. Ebenso international bekannt war auch Mariem Hassan (1958–2015), die leider früh verstorbene, charismatische Sängerin und Musikerin; auch sie setzte sich unermüdlich ein für die Unabhängigkeit der Westsahara.

In den Lagern gibt es heute eine Filmschule, eine Schule für bildende Künste und eine Musikschule. Und alljährlich wird in den Lagern das Kunstevent Ars Tifariti und das Filmfestival FiSahara mit internationaler Beteiligung durchgeführt, die einzigen Veranstaltungen dieser Art in einem Flüchtlingslager.